Selten hat eine Satzungsregelung eine derartige Aufmerksamkeit erfahren wie die des Widerrufs der Parteimitgliedschaft des § 2 Abs. 6 BS – dies gilt sowohl innerparteilich in vielen Diskussionen wie auch in den Medien. Neben der politischen Dimension haben dabei auch verschiedene rechtliche Fragen eine Würdigung erfahren. Ergänzend zu den bereits im ersten Beitrag zu dieser Thematik erfolgten Ausführungen gehe ich in diesem Beitrag auf weitere Einzelaspekte ein und dabei insbesondere auf die bisherigen Präzedenzfälle.
Präzedenzfall Augustin
Der aktuelle, recht prominente Fall ist nicht der erste, bei dem das Instrument des Widerrufs der Parteimitgliedschaft zur Anwendung kam und der auch eine gewisse Öffentlichkeit erfahren hat: Im Juli 2019 stellte der Vorstand des Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern fest, daß der damalige Landesvorsitzende Dennis Augustin im Rahmen seines Aufnahmeantrags im Jahr 2016 eine frühere Mitgliedschaft bei den „Jungen Nationaldemokraten“ (JN, heute „Junge Nationalisten“) – der Jugendorganisation der NPD – verschwiegen habe. Augustin klagte daraufhin vor dem in seinem Fall zuständigen Landesschiedsgericht Mecklenburg-Vorpommern, das seinen Antrag als unbegründet zurückwies. Das Verfahren liegt derzeit beim Bundesschiedsgericht.
Das Verfahren ist insoweit von Bedeutung, als es – wenn auch noch nicht höchstrichterlich – Maßstäbe für die Beweisführung in derartigen Fällen setzt: Die primäre Beweislast liegt beim Antragsgegner. Der Vorstand müsse darlegen, daß „der Kläger eine bei der Aufnahme offenbarungspflichtige Mitgliedschaft verschwiegen hat“ (Az. SG MV 002/19). Das erfolgte im entsprechenden Fall durch diverse Indizien, nicht jedoch etwa durch einen im Verfahren diskutierten Mitgliedsantrag, eine Mitgliederliste oder dergleichen. Ein Mitgliedschaftsvertrag könne viel mehr „auch durch schlüssiges Verhalten zustande kommen“ (a.a.O., mit Nachweisen).
Den Antragsteller trifft dann eine sekundäre Beweislast. Ein bloßes Bestreiten genüge den sich daraus ergebenden Anforderungen nicht, „wenn die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind.“ (a.a.O.)
Auch das Landesschiedsgericht thematisierte das Verhältnis der Widerrufsklausel der Bundessatzung mit § 10 Abs. 4 ParteienG, kam aber ebenfalls zum Schluß, daß das Selbstausschlußverbot keine Anwendung finde, wenn das beanstandete Verhalten vor Beginn der Mitgliedschaft liege.
Präzedenzfall Thüringen
Und schon 2018 gab es einen Fall im Landesverband Thüringen, der immerhin auch in der überregionalen Presse Niederschlag fand: Im Februar 2018 wurde mit Fabian R. ein sogar aktives Mitglied der Schlesischen Jugend aufgenommen, das diesen Umstand beim Aufnahmeantrag verschwiegen hatte. Der Landesvorstand Thüringen hob die Mitgliedschaft dann auf, der Fall wanderte zum Landesschiedsgericht. Der Fall entbehrt auch deshalb nicht einer gewissen politischen Bedeutung, weil die Schlesische Jugend nach Aussagen des thüringischen Verfassungsschutzes „maßgeblich […] von ehemaligen Führungsfunktionären der 2009 verbotenen ‚Heimattreuen Deutschen Jugend‘ (HDJ) und anderer rechtsextremer Organisationen“ getragen werde. Entsprechend hatte auch der Landesvorstand der AfD Thüringen die zusätzlich zur Parteimitgliedschaft erfolgte Berufung R.s zum sachkundigen Bürger im Stadtrat Arnstadt „ausdrücklich mißbilligt“ (a.a.O.).
Der Sachverhalt mag hier etwas einfacher als in den Fällen Augustin und Kalbitz liegen, die juristischen Grundfragen sind gleichwohl ähnliche.
Land? Bund? Wer ist denn nun zuständig?
In beiden dargestellten Fällen wurde der Beschluß vom jeweiligen Landesvorstand getroffen. Bis zum 31. Januar 2015 war ausschließlich der Bundesvorstand zuständig, dann bis zum 1. Dezember 2019 ausschließlich die Landesvorstände. Seit dem Bundesparteitag in Braunschweig sind nun sowohl der Bundesvorstand wie auch der zuständige Landesvorstand zuständig. Die Klagen in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen wurden folgerichtig beim jeweiligen Landesschiedsgericht eingereicht, § 2 Abs. 6 BS i.V.m. § 8 Abs. 2 SGO:
„Die Landesschiedsgerichte sind zuständig für die Entscheidung über
[…]
2. die Anfechtung sonstiger Beschlüsse von Organen des Landesverbands oder seiner Gliederungen; […]“
Bei der (Wieder-)Aufnahme der Zuständigkeit des Bundesvorstands wurde in der Debatte auf dem Bundesparteitag 2019 in Braunschweig ein Hauptgrund von einem Delegierten genannt. Es bestünde bei der damaligen Satzungslage die Gefahr,
„daß eventuell ein Landesvorstand ganz bewußt den entsprechenden Antrag […] unterläßt und dann wäre es in der jetzigen Satzungslage allenfalls so, daß dann der Bundesvorstand mit Ordnungsmitteln gegen den gesamten Landesvorstand arbeiten müßte also ihn erst einmal auffordern müßte, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Danach in Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. Das ist wesentlich flexibler und ermöglicht hier eben auch die Kontrolle der Landesverbände.“
Der Autor hatte die Gelegenheit, den Antrag des Satzungsausschusses zu begründen, und führte dabei aus, es werde eine praktische Lücke geschlossen, die sich bei der Satzungsneufassung 2015 ergeben hätte. Denn wenngleich es natürlich denkbar wäre, die Anfechtung der Aufnahmeentscheidung auch unmittelbar aus § 123 Abs. 1 Var. 1 BGB vorzunehmen, stellte sich dann unweigerlich die Frage, ob die Satzungsausgestaltung als lex specialis hier eine Sperrwirkung entfaltet. Diese Frage stellt sich nun nicht mehr: Der Antrag wurde vom Bundesparteitag mit deutlicher Zweidrittel-Mehrheit angenommen.
Auswirkungen des Bundesvorstandsbeschlusses
Eine in Diskussionen direkt oder rhetorisch dann immer wieder aufgeworfene Frage betrifft die Wirksamkeit des jeweiligen Beschlusses. Hier hilft jedoch schon ein Blick in die Satzung: Demnach wird ein entsprechender Beschluß – des Bundesvorstands oder zuständigen Landesvorstands – mit Zustellung wirksam. Er hat ausschließlich Auswirkungen auf die Zukunft („ex nunc“). Sämtliche Satzungsfassungen seit dem 6. Februar 2013 bis heute sehen das entsprechend vor. Diese Vorgabe entspricht auch den Grundsätzen der fehlerhaften Gesellschaft und dient insbesondere der Sicherheit im Rechtsverkehr (Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rn. 1037 m.w.N.). Wahlen und Beschlüsse, an denen ein Betroffener etwa als Mitglied auf Parteitagen oder als Mitglied in Vorständen in der Vergangenheit mitgewirkt hat, bleiben also unberührt.
Wie geht es weiter?
Binnen zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses kann der Betroffene sich an das zuständige Gericht wenden. § 2 Abs. 6 S. 3 BS regelt, daß ausnahmsweise in dieser Frage auch einem Nicht-Mitglied der Weg zur Schiedsgerichtsbarkeit offen steht. Im vorliegenden Fall ist dies das Bundesschiedsgericht (siehe oben). Nach Medienberichten ist die Anrufung des Schiedsgerichts auch bereits erfolgt. Dort ist dann eine Kammer entsprechend dem aktuellen Geschäftsverteilungsplan des Bundesschiedsgerichts zuständig. In besonders wichtigen oder schwierigen Verfahren kann das Bundesschiedsgericht – von Amts wegen oder auf Antrag einer Prozeßpartei – auch in Senatsbesetzung entscheiden, § 4 Abs. 5 SGO:
„In Fällen von grundsätzlicher Bedeutung für die Gesamtpartei oder besonders schwierigen Fällen können die Verfahrensbeteiligten sowie die zuständige Kammer die Entscheidung durch das Bundesschiedsgericht in der vollen Besetzung des Absatzes 1 (Senat) beantragen. […] Über den Antrag entscheidet der Senat.“
Ein solcher Fall dürfte hier vorliegen: Die Anwendung des Widerrufs der Mitgliedschaft bei einem Landesvorsitzenden, der zugleich Mitglied des Bundesvorstands ist, dürfte alleine hierfür schon ausreichen. Das innerparteiliche wie mediale Interesse sprechen ebenfalls dafür. Und die recht breit geführte Auseinandersetzung zeigt juristische Fragestellungen von grundsätzlicher Bedeutung auf.