Das Feststellen von Abstimmungs- und Wahlergebnissen gehört zum Alltagsgeschäft von Parteigremien, das nur selten in den Fokus rückt – in der Regel interessiert das Abstimmungsergebnis als solches, seine Bedeutung steht dabei fest. Gerade zu qualifizierten Mehrheiten oder bei seltener genutzten Wahlverfahren besteht hingegen bisweilen Erläuterungsbedarf. In einem aktuellen Fall bestand Unsicherheit darüber, ob Enthaltungen bei der Berechnung des Quorums bei der Beantragung eines Parteiausschlußverfahrens außen vor bleiben oder im Ergebnis wie Nein-Stimmen wirken sollen. Daß über sechs Jahre nach Beschluß der aktuellen Satzungsfassung die Frage der korrekten Auslegung des § 7 Abs. 2 der Bundessatzung (BS) aufkommt, mag verwundern, eröffnet aber die Gelegenheit, diese Frage grundsätzlich einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
von Julian Flak und RA Christoph Basedow
Die Ausgangslage: Was sagt die Satzung?
Ordnungsmaßnahmen gegen ein Parteimitglied setzen den Beschluß eines zuständigen Vorstands voraus. Das jeweils erforderliche Mehrheitserfordernis ist dabei seit der Satzungsneufassung auf dem Bundesparteitag in Bremen am 31. Januar 2015 in § 7 Abs. 2 BS festgelegt:
„Eine Abmahnung […] setzt einen von dem zuständigen Vorstand gefaßten Beschluß voraus; der Antrag auf weitergehende Ordnungsmaßnahmen […] bedarf eines mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder gefaßten Beschlusses.“
Abmahnungen – die anders als weitergehende Ordnungsmaßnahmen direkt vom Vorstand verhängt werden – setzen dabei einen einfachen Beschluß voraus. Nach § 15 Abs. 1 des Parteiengesetzes ist dies die sogenannte „einfache Stimmenmehrheit“, wenn Satzung oder Gesetz keine höhere Stimmenmehrheit bestimmen. § 15 Abs. 1 ParteienG entspricht insoweit inhaltlich dem § 32 Abs. 1 S. 3 BGB:
„Bei der Beschlußfassung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.“
Ein Beschlußantrag ist angenommen, wenn mindestens eine Ja-Stimme mehr als Nein-Stimmen abgegeben wurden (Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, 13. Auflage, Rz. 1799).
Für weitergehende Ordnungsmaßnahmen, namentlich die Amtsenthebung, die Ämtersperre und den Parteiausschluß, liegt die Hürde höher: Hierfür ist eine Zweidrittelmehrheit „der anwesenden Mitglieder“ erforderlich. Die Frage, wie dabei mit Enthaltungen umzugehen ist, war Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung und ist Kern der hier aufgeworfenen Frage.
Der Umgang mit Enthaltungen
Der Bundesgerichtshof hat in einem bis heute viel zitierten Urteil vom 25.01.1982 (Az. II ZR 164/81) grundsätzlich für den Umgang mit Enthaltungen festgestellt:
„Niemand, der sich der Stimme enthält, wird nach der Verkehrsanschauung auf den Gedanken kommen, sein Verhalten werde sich auf die Beschlußfassung anders auswirken, als wenn er der Versammlung ferngeblieben wäre oder sich vor der Abstimmung entfernt hätte. Er will, aus welchen Motiven auch immer, weder ein zustimmendes noch ein ablehnendes Votum abgeben, sondern seine Unentschiedenheit bekunden.“
Anwesend oder erschienen?
Dieser Entscheidung lag noch die bis 2009 gültige Fassung des § 32 BGB zugrunde, wonach bei der Beschlußfassung die Mehrheit der „erschienenen Mitglieder“ entscheide. Der BGH führte in der zitierten Entscheidung aus, daß
„damit die notwendige Klarstellung getroffen wird, daß Beschlüsse nicht von der Mehrheit der überhaupt dem Verein angehörenden Mitglieder gefaßt zu werden brauchen: sie können unabhängig von der Mitgliederzahl zustande kommen, wenn die Mehrheit derjenigen dafür stimmt, die durch ihre Beteiligung an der Abstimmung ihr Interesse an der zu regelnden Vereinsangelegenheit bekunden. Dagegen ist nicht gut anzunehmen, daß jene Wortfassung einen weitergehenden Sinn habe; insbesondere spricht nichts dafür, daß bei der Berechnung der Mehrheit die Stimmenthaltungen mitgezählt werden sollen. Diese werden gar nicht erwähnt.“
§ 32 Abs. 1 S. 3 BGB wurde zum 30. September 2009 durch das Vereinsrechtsänderungsgesetz geändert: „Bei der Beschlußfassung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.“ Damit wurde die herrschende Meinung und die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs übernommen. Folgerichtig legt die Rechtsprechung seitdem die Regelung auch nicht anders aus, so etwa das AG Essen in einem Urteil betreffend eine Mitgliederversammlung im November 2009 (AG Essen, Urteil vom 11.05.2010 – 11 C 549/09), das sich explizit weiterhin auf das BGH-Urteil von 1982 bezieht.
Der Bundesgerichtshof hielt dabei in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 (Urteil v. 12.01.1987, Az. II ZR 152/86) „die Mehrheit der vertreten(d)en Stimmen“ für gleichbedeutend mit der Mehrheit „der erschienenen Mitglieder“. Alles deutet darauf hin, daß der Bundesgerichtshof die Formulierung „der anwesenden Mitglieder“ in unserer Bundessatzung nicht anders bewerten würde. Die semantischen Unterschiede zwischen der „Mehrheit der Anwesenden“, der „Mehrheit der Erschienenen“ und der „Mehrheit der Vertretenden“ führen nach der Rechtsprechung allein noch nicht zu einer Änderung des verkehrsüblichen Erklärungswillen einer Enthaltung.
Satzungsautonomie und Satzungsklarheit: Ausnahmen von der Regel
Der Bundesgerichtshof läßt jedoch als Ausfluß der Satzungsautonomie von Vereinen Ausnahmen zu, sofern diese in der Satzung klar geregelt sind. Das gilt für Parteien aufgrund des Parteienprivilegs des Artikel 21 Abs. 1 des Grundgesetzes erst recht. Ausnahmen müssen aber ganz im Sinne von Satzungsklarheit deutlich gefaßt sein, damit kein Mitglied im Zweifel darüber ist, wie die Regelung auszulegen ist. Aus der Satzungsformulierung muß dabei eindeutig die vom verkehrsüblichen Erklärungswillen einer Enthaltung abweichende Regelung hervorgehen:
„Soll seine Stimmenthaltung dennoch entgegen der Regel die Bedeutung einer Nein-Stimme haben, so muß dies deshalb aus der Satzung so eindeutig ablesbar sein, daß das einzelne Vereinsmitglied über die Bewertung seines Abstimmungsverhaltens bei vernünftiger Würdigung des Satzungswortlauts nicht im Zweifel sein kann. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Satzung des Bekl. legt den Gedanken an eine Ungenauigkeit des Ausdrucks, der kein Differenzierungswille zugrunde liegt, mindestens ebenso nahe wie die Möglichkeit einer gewollten Unterscheidung.“ (so BGH, Urteil v. 12.01.1987, Az. II ZR 152/86).
Im Zweifel werden Enthaltungen also unberücksichtigt gelassen. Bei der Frage, wie die Regelung des § 7 Abs. 2 BS zu verstehen ist, wird also auf das einzelne Vorstandsmitglied abgestellt – das ist auch sachgerecht, weil jedes Mitglied in einem zuständigen Vorstand mit der Anwendung dieser Satzungsregelung konfrontiert werden kann. Demzufolge ist also auch unerheblich, wie die Mitglieder eines einzelnen Vorstandes die Satzungsregelung auslegen, weil Ordnungsmaßnahmen von allen zuständigen Vorständen verhängt bzw. beantragt werden können. Die Auslegung des § 7 Abs. 2 BS kann für die Partei nur einheitlich erfolgen.
Allein schon die Debatte um die Frage zeigt, daß hier keine bewußte Abweichung von der üblichen Rechtslage in der vom Bundesgerichtshof geforderten Klarheit erfolgte. In der Bundessatzung gibt es dabei an anderer Stelle durchaus eine explizite Abweichung vom Regelfall: § 7 Abs. 7 S. 1 BS sieht bei der Suspendierung von Mitgliedsrechten (sog. „Sofortmaßnahme“) ein verschärftes Quorum vor:
„Ist ein Antrag auf Ordnungsmaßnahmen nach Absatz 5 gestellt […], so kann der zuständige Landesvorstand oder der Bundesvorstand durch einen von zwei Dritteln seiner Mitglieder gefaßten Beschluß den Antragsgegner bis zur Entscheidung des Schiedsgerichts in der Hauptsache von der Ausübung seiner Rechte (z.B. eines Parteiamts) ausschließen.“
Hier ist die Notwendigkeit eines absoluten Zustimmungsquorums durch die Worte „einen von zwei Dritteln seiner Mitglieder“ als einem positiven Stimmenquorum klar zum Ausdruck gebracht. Schon eine Nichtteilnahme an der Sitzung wirkt hier im Ergebnis wie eine Nein-Stimme. Eine solche deutliche Regelung wurde beim § 7 Abs. 2 BS trotz einer monatelangen Diskussion in den Monaten zwischen den Bundesparteitagen in Erfurt und in Bremen nicht getroffen. Eine über das „einfache“ Zweidrittelerfordernis hinausgehende Hürde wurde weder in der damaligen Bundessatzungskommission für notwendig erachtet noch auf den mit der Satzung als Gesamtwerk befaßten Bundesparteitagen in Bremen und Hannover 2015 diskutiert.
Es ist darüber hinaus nicht erkennbar, warum selbst für die Antragstellung der Verhängung einer Ämtersperre eine über die Zweidrittelmehrheit hinausgehende qualifizierte Mehrheit erforderlich sein soll, während eine „normale“ Zweidrittelmehrheit für (sofort wirksame) Ordnungsmaßnahmen gegen Gebietsverbände (§ 8 Abs. 3 Satz 1 BS) oder Satzungsänderungen (§ 11 Abs. 18 S. 1 BS) ausreichend ist. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die Formulierung des § 7 Abs. 2 BS „Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder“ den Unterschied zu der Regelung über den Beschluß einer Eilmaßnahme (§ 7 Abs. 7 S. 1 BS) verdeutlichen soll.
Fazit
Enthaltungen sind bei weitergehenden Ordnungsmaßnahmen nach § 7 Abs. 4 BS und § 7 Abs. 5 BS bei der Berechnung der notwendigen Mehrheit nicht zu berücksichtigen. Es bedarf daher zur Erfüllung des satzungsgemäßen Quorums mindestens doppelt so vieler Ja-Stimmen wie Nein-Stimmen. Für eine abweichende Betrachtungsweise fehlt es zumindest an der für eine – zulässige – Ausnahme erforderlichen eindeutigen abweichenden Satzungsregelung. Etwaige abweichende rechtliche Auffassungen in einem einzelnen Gremium haben keine Auswirkung auf die Auslegung der Satzung für die Gesamtpartei.
Ungeachtet dessen empfiehlt sich eine instruktive Klarstellung in der Satzung.